Von Peter Bernet (2006)

Skipäpste in Grindelwald

Grindelwald vor 100 Jahren: 1905

 

Erst wenige wagten sich auf die Ski und nicht alle auf die Eisbahn. Spaziergänger am Pfarrstutz auf der noch schmalen Strasse. Im Hintergrund Kirche und Pfarrhaus.

Die Norweger geben im Skiunterricht den Ton an, aber bei den Rennen macht ein Einheimischer allen etwas vor. In Lütschental geschieht bei einer Lawine Unglaubliches und in Grindelwald kommt an einem Mann namens Teutschmann keiner vorbei. Viel zu reden gibt ein Raser – schon vor hundert Jahren! Mitten im Dorf wird eine schöne Anlage zum Flanieren eröffnet und die Wintersaison 1905/06 beginnt bereits im Oktober. – Peter Bernet blickt in seinem fünften Jahresrückblick auf die Zeit um 1905.

Über Silvester hatte ein heftiger Föhnsturm getobt, dann setzte aber Schneefall ein und 1905 begann strahlend schön. Die Zeit der Maskenbälle konnte beginnen. Auf der grossen Bär-Eisbahn wurde der Anlass durch das Kurorchester feierlich eröffnet und man rühmte in der Zeitung «die Pracht der Toiletten und die brilliante Beleuchtung durch die vielfarbigen Lampions». Die Hoteliers erfreuten sich vor allem an einer Nachricht aus Bern: Über dreihundert englische Touristen seien noch unterwegs ins Oberland. Mitte Januar zählte man dann in Grindelwald rund tausendvierhundert Gäste!

Norwegische Skipäpste und Skikönig Steuri

Von Einheimischen wurde schon vereinzelt Skiunterricht erteilt. Es war, wie sie sagten, «absolut stilreine Norwegerschule». Man hatte 1905 die norwegischen Skifahrer Leif Berg und Thorleif Björnstad mit Respekt empfangen, denn sie waren die Skipäpste jener Zeit. Skiklub-Präsident Jakob Abplanalp lud sie ein für «6 Tage dauernde Übungen im Interesse des schönen Skisports». Dabei war der erfolgreichste aller Skifahrer und das Aushängeschild Grindelwalds ein Einheimischer: der «mehrfache Skikönig» Fritz Steuri. Auch im Sommer blieb der Skiklub tätig. Die Mitglieder arbeiteten wochenlang für den Umzug am Unspunnenfest in Interlaken. Man stellte auf einem Fahrzeug den Wintersport dar. Hotelier Haussener vom «Wetterhorn» kreuzte mit einem 57 Zentner schweren Eisblock vom Oberen Gletscher auf und Pintenfritz Bohren machte mit einer Gruppe «zu Ehren des Hotels Faulhorn» Werbung für sein hochgelegenes Berghaus. Auch Dorfpfarrer Gottfried Strasser trat im Umzug auf. Als Leiter eines Bergführerkurses in Kandersteg marschierte er in einer Seilschaft von Bergführeraspiranten über die Höhematte, ein ungewohnter Anblick. Strasser war 1905 auch dabei gewesen bei der Gründung des Kur- und Verkehrsvereins, der Alpinen Rettungsstation und des Turnvereins Grindelwald und schrieb wie üblich zur Eröffnung des Restaurants in der Station Eismeer der Jungfraubahn seine Verse, die er nur so aus dem Ärmel schüttelte. Ohne ihn ging in Grindelwald nichts.

Zeichen und Wunder im Lütschental

Es geschah in der Nacht vom 18. zum 19. März 1905. Es hatte lange und viel geschneit. Da löste sich plötzlich am Männlichen eine riesige Lawine und stürzte gegen Lütschental hinunter. Sie demolierte Johann von Allmens Wohnhaus, einem in Grindelwald wohlbekannten Bergführer. Von Allmen hatte das Herannahen der Lawine, wie er sagte, geahnt, weil beim Brunnen plötzlich das Wasser stockte. Er konnte sich mit Frau und Kindern knapp an eine hintere Gebäudewand retten und schon riss die Lawine das Haus über ihren Köpfen weg. Es geschehen noch Zeichen und Wunder: Die Familie überlebte! So wurde es vor hundert Jahren erzählt. Für das Gebäude war es schon die zweite Katastrophe. Es stand einst unten im Talboden und wurde dort 1831 bei einem Hochwasser unterspült und fast weggeschwemmt. Der damalige Besitzer Weissmüller entschloss sich darauf, es höher hinauf zu bauen, in der Rüti, sicher vor Überschwemmungen – aber nicht vor Lawinen, wie sich nun zeigte. Im «Echo» schrieb man: «Das Lütschental ist stets schwer bedroht, auf der Schattseite durch Lawinen und auf der Sonnseite durch Wasserverheerungen». Das Mitleid mit Bergführer von Allmen war gross und in Grindelwald wurde eifrig gesammelt, um der Familie zu helfen. Es gab noch keine Versicherungen, dafür seit Generationen Hilfsbereitschaft für unschuldig Betroffene.

Wo er nicht nur Schule hielt, sondern auch erzog …

Lehrer blieben ihren Schulen treu. So feierte 1905 Johann Roth, genannt «Bodmi-Hans», dreissig Jahre Schuldienst. Er hielt zuletzt am Endweg Schule, wo er «nicht nur unterrichtete, sondern auch erzog», wie in der Zeitung besonders betont wird. Lehrer Johann Wagner hinter Itramen feierte sogar das vierzigjährige Amtsjubiläum. Er war 1865 als noch nicht einmal Zwanzigjähriger aus dem Oberaargau gekommen und hatte sich vorgenommen, bei den Itramern höchstens zwei Jahre auszuharren. Nun war Lehrer Wagner nach vierzig Jahren immer noch dort und kämpfte mit seinen Itramern wie ein Löwe für eine Itramenstrasse. Im benachbarten Lütschental war der weit herum bekannte Lehrer Peter Anneler gestorben, «Vater und Ratgeber der Gemeinde». Er hielt es sogar 56 Jahre lang an seiner Schule aus, stand also 76-jährig noch in der Lütschentaler Schulstube, und war zudem noch während 36 Jahren Gemeindeschreiber!

An Teutschmanns kam niemand vorbei

Früher oder später hatte es jeder mit ihm zu tun: Teutschmann war Totengräber und waltete vierzig Jahre lang seines Amtes. Er grub in dieser Zeit, wie berichtet wurde, über tausend Verstorbenen das Grab. 1905 wurde ihm nun selber das Grab geschaufelt. Schon Vater und Grossvater Teutschmann hatten als als Totengräber amtiert. Sie wirkten nacheinander 110 Jahre lang und betteten im Grindelwalder Friedhof gegen dreitausend Personen zur ewigen Ruhe. Die Zahlen widerspiegeln das Bevölkerungswachstum. Wie hiessen die Verstorbenen und welches waren bei den Taufen vor hundert Jahren die gängigsten Namen? Es wimmelte von Knaben mit dem Namen Gottfried, wie das Geburtsregister von 1905 zeigt. Beliebt waren aber auch Johannes, Friedrich und Christian, also neben Godi auch Hans, Fritz und Chrigel. Sie trafen bei den Mädchen am ehesten auf eine Margaritha, Anna oder Bertha, im Alltag Griitli, Anni oder ein Berthi genannt.

Eleganz im Eigerpark

1905 war der Eigergarten eröffnet worden. Mit ihm besass Grindelwald nun vor dem Grandhotel «Eiger» eine grosszügige Parkanlage mit Bassin und Springbrunnen. Eigerbesitzer Samuel Baumann hatte den Park einrichten lassen und kaufte dazu gleich noch eine «Lambrecht’sche Wettersäule» aus Göttingen, eine vielbeachtete Wetterstation. Heute befindet sie sich gegenüber dem Grand Bazar Brunner und leistet immer noch ihren Dienst. Blettlidrucker Jakober rühmte in seinem «Echo», eine ganze Völkerwanderung von elegant gekleideten Gästen promeniere jeweils an schönen Sommerabenden auf der Dorfstrasse sowie im Eigerpark und erfreue sich an den Klängen der Kurkapelle. Hie und da fahre ein herrschaftlicher Landauer vorbei, im Schritt, wie es in Grindelwald Brauch sei. Im Duftli herrschte während der Saison Eleganz und es ging gesittet zu und her – aber nicht immer, wie der folgende Vorfall zeigt.

Geschieht ihm recht!

Das verlangte Schritttempo auf der Dorfstrasse interessierte den Chauffeur eines Gastes im Grandhotel Bär überhaupt nicht: Der junge Fahrer fuhr in «rasendem Tempo», wie Augenzeugen berichteten, dorfein und auswärts und lud zum Schrecken der Einheimischen jeweils junge Dorfschönheiten zur Mitfahrt ein. Er sass zum Glück ohne ein hübsches Grithli, Anni oder Berthi in seinem Martini, als er die Steigung zum Pfarrhaus beim Haus Schlegel «im Graben» nicht erwischte und sich das teure Auto den Hang hinunter mehrmals überschlug. Der Chauffeur selber landete zuerst in einem Kartoffelacker, dann in der Praxis von Dorfarzt Doktor Scherz und schlussendlich, nachdem dieser keine Verletzung, jedoch Alkohol festgestellt hatte, in den Händen des als nicht als besonders zimperlich geltenden Dorfpolizisten Hofer. Er hatte vor der Praxis auf den Unhold geduldig gewartet. Die Kutscher im Dorf konnten nun auf den Stammtisch klopfen und schadenfroh lachen: «Bravo, geschieht ihm recht!». In der Gemeindeversammlung wurde nach diesem ersten Autounfall ein totales Autoverbot für das ganze Grindelwaldtal verlangt.

Mit einem Zwölfspänner unterwegs

Das «technische Wunderwerk» Wetterhornaufzug war im Bau, verlor aber 1905 seinen Begründer. Der deutsche Ingenieur Feldmann war überraschend gestorben. Trotzdem trafen in Grindelwald die Drahtseile wie geplant ein. Der letzte Kabeltransport, auf Schlitten, erreichte am 20. Dezember 1905 die Talstation beim Oberen Gletscher. Die schwere Fuhr wurde durch 12 Pferde der Fuhrleute Roth und Schild gezogen, ein eindrückliches Manöver. Das Firmenschild «Rothschild & Co.» erheiterte dabei die Weinkenner unter den vielen Zuschauern. Sprachforscher Emanuel Friedli, der zu dieser Zeit das Tal erforschte und sein Grindelwaldbuch schrieb, stellte zu seinem Erstaunen fest, es gebe in ganz Grindelwald noch keinen einzigen Heu- und Erntewagen. Bis siebzehnhundert «Burdeni Hew» werde von jungen Bauernsöhnen im Laufe eines Sommers auf dem Rücken eingetragen, stellte er beeindruckt fest.

Wintergäste schon im Oktober

Der Winter 1905/06 zog schon am 2. Oktober ins Tal und beschädigte viele Bäume in den Hotelanlagen. Bauern hinter Mühlebach mussten die Kartoffeln «einen Schuh unter dem Schnee hervorscharren» und das vielerorts noch herumliegende Emd sei nur noch als Streue verwendbar gewesen, berichtete man. Zum Glück sei die Heuernte im Sommer sehr reichlich ausgefallen, hielt man dankbar fest. Kaum zu glauben: Schon am 11. Oktober begann dann mit sehr günstigen Schneeverhältnissen und den ersten Skifahrern im Grand Hotel «Bär» die Wintersaison und die Leute des Skiklubs machten sich auf zur ersten Skitour. Skiabfahrten mussten zu Fuss verdient werden. Vor hundert Jahren gab es noch keine Bahnen für Skifahrer, nicht zu reden von präparierte Pisten.

 

Quellen

«Echo» von Grindelwald, 1905, Sammlung Thomas Stettler
«Im Tal von Grindelwald», Bücherreihe zur Ortsgeschichte
«Grindelwald», Emanuel Friedli, 1908
Blatterkartei, Staatsarchiv Bern
Mündliche Überlieferungen

Fotos:
Fotosammlungen Jakob Bracher, Samuel Michel

 

Steuri aus Grindelwald, wer denn sonst? Der mehrfache Skikönig Fritz Steuri, der erfolgreichste aller Skifahrer jener Zeit. Die Organisatoren baten ihn dann, auf weitere Skirennen zu verzichten, damit auch mal ein anderer gewinnen könne!

Steuri aus Grindelwald, wer denn sonst? Der mehrfache Skikönig Fritz Steuri, der erfolgreichste aller Skifahrer jener Zeit. Die Organisatoren baten ihn dann, auf weitere Skirennen zu verzichten, damit auch mal ein anderer gewinnen könne!

Vor dem Grand Hotel Bear: Eisskulptur von Jakob Abplanalp, einem Schnitzler mit Weltruf. Er wurde an der Weltausstellung 1905 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Nebenbei organisierte er als erster einwöchige Skikurse mit Norwegern als Instruktoren.

Vor dem Grand Hotel Bear: Eisskulptur von Jakob Abplanalp, einem Schnitzler mit Weltruf. Er wurde an der Weltausstellung 1905 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Nebenbei organisierte er als erster einwöchige Skikurse mit Norwegern als Instruktoren.

Schlittler am Fussweg oberhalb dem Tuftli, zu Salzsäulen erstarrt. Bewegen durfte man sich beim Fotografieren nicht! Im Hintergrund ein Schanzentisch, gebaut für Wagemutige, die einen Skisprung wagten. Postkarte abgesandt 1906 aus – Davos!

Schlittler am Fussweg oberhalb dem Tuftli, zu Salzsäulen erstarrt. Bewegen durfte man sich beim Fotografieren nicht! Im Hintergrund ein Schanzentisch, gebaut für Wagemutige, die einen Skisprung wagten. Postkarte abgesandt 1906 aus – Davos!

Erst wenige wagten sich auf die Ski und nicht alle auf die Eisbahn. Spaziergänger am Pfarrstutz auf der noch schmalen Strasse. Im Hintergrund Kirche und Pfarrhaus.

Erst wenige wagten sich auf die Ski und nicht alle auf die Eisbahn. Spaziergänger am Pfarrstutz auf der noch schmalen Strasse. Im Hintergrund Kirche und Pfarrhaus.

Eine Schneewalze, der «Ratrac vor hundert Jahren», ist unterwegs und sorgt für gangbare Wege. Herrschaftlich gebaute schöne Mauern im Hintergrund prägen die Dorfstrasse.

Eine Schneewalze, der «Ratrac vor hundert Jahren», ist unterwegs und sorgt für gangbare Wege. Herrschaftlich gebaute schöne Mauern im Hintergrund prägen die Dorfstrasse.

Der Eigergarten vor dem Grandhotel Eiger, eröffnet 1905. Eine elegante Anlage mit Bassin und Spritzbrunnen, an der Stelle des heutigen Minigolfs. An schönen Sommerabenden spielte die Kurkapelle. Noble Damen und Herren flanierten im Park.

Der Eigergarten vor dem Grandhotel Eiger, eröffnet 1905. Eine elegante Anlage mit Bassin und Spritzbrunnen, an der Stelle des heutigen Minigolfs. An schönen Sommerabenden spielte die Kurkapelle. Noble Damen und Herren flanierten im Park.

Es gebe in Grindelwald noch keinen einzigen Heu- und Erntewagen, schrieben Besucher 1905 erstaunt. Alles Futter werde noch auf dem Rücken eingetragen. Zum Glück seien die Scheunen meist nicht allzuweit entfernt.

Es gebe in Grindelwald noch keinen einzigen Heu- und Erntewagen, schrieben Besucher 1905 erstaunt. Alles Futter werde noch auf dem Rücken eingetragen. Zum Glück seien die Scheunen meist nicht allzuweit entfernt.

Im Laufe eines Sommers trugen Söhne begüteter Bauern bis siebzehnhundert «Burdeni Hew» in die Scheunen. Dazu kamen noch die «Pullggeni», die kleinen Lasten der Knaben.

Im Laufe eines Sommers trugen Söhne begüteter Bauern bis siebzehnhundert «Burdeni Hew» in die Scheunen. Dazu kamen noch die «Pullggeni», die kleinen Lasten der Knaben.

Im Herbst 1905 erhielt Grindelwald ein neues Post- und Telegrafengebäude. Es wurde von der Berner Oberland Bahn gebaut, 1921 dann an die PTT verkauft und steht heute noch.

Im Herbst 1905 erhielt Grindelwald ein neues Post- und Telegrafengebäude. Es wurde von der Berner Oberland Bahn gebaut, 1921 dann an die PTT verkauft und steht heute noch.

Mit einem Zwölfspänner am 20. Dezember 1905 unterwegs zur Talstation des Wetterhornaufzuges, mit dem Kabel für die erste Luftseilbahn der Schweiz. Ein paar Wochen vorher war der deutsche Ingenieur Feldmann, der Begründer der Bahn, gestorben. Die Arbeiten gingen aber wie geplant weiter.

Mit einem Zwölfspänner am 20. Dezember 1905 unterwegs zur Talstation des Wetterhornaufzuges, mit dem Kabel für die erste Luftseilbahn der Schweiz. Ein paar Wochen vorher war der deutsche Ingenieur Feldmann, der Begründer der Bahn, gestorben. Die Arbeiten gingen aber wie geplant weiter.

Die schwere Fuhr wurde durch zwölf Pferde der Fuhrleute Fritz Roth und Ulrich Schild gezogen, dabei gab das Schild «Rothschild & Co» unter Weinkennern zu schmunzeln. Auf dem Weg zum Oberen Gletscher gab es zu Isch einen Halt und es wurde fotografiert. Der Transport dauerte drei Tage.

Die schwere Fuhr wurde durch zwölf Pferde der Fuhrleute Fritz Roth und Ulrich Schild gezogen, dabei gab das Schild «Rothschild & Co» unter Weinkennern zu schmunzeln. Auf dem Weg zum Oberen Gletscher gab es zu Isch einen Halt und es wurde fotografiert. Der Transport dauerte drei Tage.


Weitere Geschichten