Von Peter Bernet (2010)
Zweihundert Angestellte für neun Gäste
Grindelwald vor 100 Jahren: 1909
Man wollte in Grindelwald einen Kursaal mit einem Casino bauen und fast jeder Berggipfel sollte eine Bahn erhalten. Einmal mehr bereitete ruinöses Wetter Hoteliers und Landwirten Sorgen. Nach einem Zwischenfall am Unteren Gletscher wunderte man sich weit herum über einen Hund. Man fieberte bereits einem Grossanlass entgegen: dem Sechsten Schweizerischen Skirennen, im Januar 1910. – Peter Bernet blickt in seinem neunten Jahresrückblick auf die Zeit um 1909.
«Es ist rein zum Verzweifeln mit diesem Hudelwetter», klagte man im Lokalblatt «Echo von Grindelwald» zu Beginn der Sommersaison im Juni 1909. Es kam noch schlimmer: Am 14. Juli schneite es bis auf die Brandegg herunter. Von der Kleinen Scheidegg meldete man ununterbrochenen Schneefall und eine Schneehöhe von einem halben Meter – und das mitten im Sommer. Die Männlichenwirte Gebrüder Seiler sprachen boshaft von «Sommerfrische wie noch nie!». Das Vieh musste von den Alpen heruntergetrieben werden und «die Wirte der Berghotels stecken im tiefsten Winter», liest man. Auf Männlichen seien angeblich achtzig Zentimeter Schnee gefallen und am Mettenberg Sommerlawinen gekommen, wie man das noch selten gesehen habe. «Ruinöses Wetter! Gäste sieht man nicht!», klagte Blettlidrucker Jakober in seinem «Echo». Im Hotel Grand Eiger, mit eigenem Hausorchester, habe und bezahle man derzeit zweihundert Hotelangestellte zur Bedienung von neun Gästen!
Fremde Schlitten
Im folgenden Herbst 1909 waren die Gebrüder Boss und Direktor Cassani vom Grand Hotel Bear bös ins Fettnäpfchen getreten. Schlitteln kam vor hundert Jahren immer mehr auf und schöne Wege luden dazu ein. Gegenverkehr war keiner zu befürchten, nur selten kam ein Fuhrwerk und Autos gab es im Winter in Grindelwald noch weit und breit keine. Die Herren vom Bärhotel wollten darum vermehrt mit «Tailing partys» den Gästen etwas bieten, mit hinter Pferdegespannen angehängten Rudeln von fröhlichen Schlittlern. Man konnte die Leute ja nicht den lieben langen Tag auf der Eisbahn verweilen lassen und Skifahren war nur für ein paar Wenige etwas, glaubten sie. Sie bestellten darum einige Dutzend Schlitten: Ein schöner Auftrag, aber viel zu spät, wie sich bald zeigte. Es war nichts zu machen, so viele Schlitten auf einmal in so kurzer Zeit war man im Grindelwaldtal nicht imstande herzustellen. Die kunstvoll gebauten «Beinzen», diese schönen Grindelwalder Schlitten mit drei bis fünf runden «Steblinen», den typischen Rundstäben, wurden sorgfältig angefertigt und gaben viel zu tun. Das Ahorn- oder Eschenholz musste dazu gut getrocknet sein, die Schlitten durften «nid verwiisen», sie durften nicht schräg laufen. Nun entschlossen sich die Herren vom Grand Hotel statt dessen einfach konstruierte und sofort lieferbare Davoserschlitten von auswärts zu kaufen. Das gab zu reden. Man stelle sich das vor: Ausgerechnet im Tal der schönen Grindelwaldschlitten kaufte sich eine angesehene einheimische Familie fremde Schlitten von auswärts! Aber mit der Zeit tauchten immer häufiger «Davoser» in Grindelwald auf und so konnte man sich weiterhin über die «Fremden» ärgern – bis sie zur Selbstverständlichkeit wurden.
Direkt zur Stieregg
Einen Strich durch die Rechnung machte das schlechte Wetter auch Gletscherwirt Peter Inäbnit vom Berghaus auf der Stieregg. Er hatte von den Bergschaften Grindel und Scheidegg gerade die Bewilligung erhalten, einen neuen und direkten Zugang zu bauen. «Nun verschwinden die morschen Leitern», ist 1909 zu lesen. Erst Ende Sommer konnte er aber dann einen hundert Meter langen Weg aus den Felsen sprengen. Den Bergführern waren der Umweg über die Holztreppen schon lange ein Dorn im Auge. Sie leisteten nun beim Ausbau auch ihren Beitrag: Sie erstellten als Fortsetzung von der Stieregg «einen gangbaren Weg auf den Gletscher, der zugleich Teilstück der Schwarzeggroute» wurde. Der damals hohe Gletscherstand liess einen Pfad über den Gletscher zu.
Pläne für einen Kursaal und ein Casino
Aber auch im Dorf tat sich einiges. Die «Boss Grands Hotels und Bär AG» renovierte ihr Hotel: Eine Zentralheizung sowie elektrisches Licht wurden im ganzen Haus installiert und in den Appartements Bäder eingebaut. Direktor Cassani verkündete darauf, nun führe er ein zeitgemässes und winterfestes Hotel. Zudem gründeten Grindelwalder Hoteliers und Geschäftsleute eine «Kurhausgesellschaft». Das Casino sollte vor das Hotel Grand Eiger gebaut werden, im Eigerpark, beim heutigen Minigolf und Barackenlager. Sogar Dorfpfarrer Strasser liess verkünden, die Erstellung eines Kursaals sei «für Grindelwald unerlässlich». Der Optimismus war fast grenzenlos und vieles galt als unerlässlich, wie man meinte. So besass die Jungfraubahn fertige Pläne für eine Luftseilbahn von der Station Eismeer auf den Eigergipfel, Pläne schon im Detail bestanden für eine Grosse Scheidegg-Bahn mit einer Abzweigung auf das Faulhorn und die Wengernalpbahn sah eine Fortsetzung des Schienennetzes von der Kleinen Scheidegg zum Männlichen vor. Was aber niemand ahnte: Ein paar Jahre später, mit dem Kriegsausbruch von 1914 und dem Ersten Weltkrieg, waren sämtliche Träume ausgeträumt.
Kaufmann Peters Pullover
Vor hundert Jahren trugen Knaben und deren Väter auch im kältesten Winter keinen Mantel und schon gar nicht Handschuhe. Auch Pullover besassen nur ein paar Söhne gut betuchter Hoteliers und man benied sie darum. Einen solchen erhielt der Itramer Peter Kaufmann, geboren 1888, wohnhaft gewesen zu Aspen, der als Zwanzigjähriger 1908 eines der ersten Männlichenrennen überlegen gewann. Die Abfahrt führte mit Start vom Männlichen, der zuerst in einem mehrstündigen Aufstieg erreicht werden musste, der heutigen Tschuggenabfahrt nach hinunter und dann hinüber zum Ziel auf dem Sand, bei der heutigen Landi. Sieger Peter Kaufmann erhielt an der Preisverteilung im noblen Grandhotel Bear einen prächtigen Norwegerpullover, von dem er noch in alten Tagen gerne erzählte. Er war ihm aber viel zu gross! Was machen? Nun schlüpfte Vater Kaufmann in den «Spänz» seines Sohnes: Er passte bestens! Darauf machte er sich mit seinem erfolgreichen Junior auf ins Dorf ins Geschäft von Jakob Abplanalp, dem ersten Sportgeschäft Grindelwalds – heute Sportbekleidung Brawand. Dort kaufte er für Petschli einen ebenso schönen, aber viel kleineren Pullover. Vater und Sohn Kaufmann, beide in einem «Norweger», waren nun zufrieden.
Am Männlichen im Vorteil?
Kaufmann Peter, genannt Aspenpeter, erzählte später, warum er das Männlichenrennen mit Abstand gewinnen konnte: Als ehemaliger Hüterbub an der Alp Itramen habe er das Gelände wie seinen eigenen Hosensack gekannt. Er habe gewusst, wo die besten Durchgänge bei Zäunen und über Gräben waren. Damit sei er gegenüber «denen von anhi im Dorf», denen die im Dorf wohnten, im Vorteil gewesen und erst recht gegenüber den Engländern. Die Routenwahl war nämlich Sache der Teilnehmer und die Idee für das Rennen stammte von Engländern im Grand Hotel Bear. Nur drei Kontrolltore mussten passiert werden. Pisten gab es noch lange keine. Der letzte Kontrollposten und die Schlüsselstelle war der Fuxsteg, der Übergang von Itramen her über den Wärgistalbach. Er bestand nur aus zwei schmalen Latten. Die heutige Itramenstrasse mit der Brücke gab es noch nicht, die Itramer mussten noch bis 1913 auf sie warten. Über die zwei glitschigen Bretter musste nun also balanciert werden, erzählte er, und wer das vollbrachte und nicht in den Wärgistalbach fiel, der hatte es geschafft. Schlussendlich erreichten nur gerade drei Teilnehmer das Ziel auf dem Sand, so dass es für alle zu einem Podestplatz reichte! Einen vierten Rang gab es nicht, denn alle andern Fahrer waren ausgeschieden, die meisten schon vor dem ersten Kontrolltor auf dem Feldmoos unterhalb des obersten Hanges am Männlichen! Petsch brachte es auf den Punkt: Die andern seien halt «verunglückt». Ein Engländer habe sich sogar im Brandwald verirrt und musste gesucht werden. Peter Kaufmann Peter erinnerte sich noch gut, wie er von den Zuschauern im Ziel mit grossem Hallo empfangen worden sei. Er hat das alles, 85-jährig, der einstigen Itramenlehrerin Ruth Amsler erzählt. Das Interview, aufgezeichnet vor fast 40 Jahren, ist als Tondokument im Heimatmuseum noch vorhanden.
Fabrikplunder
Vor hundert Jahren konnte sich die damals ältere Generation noch erinnern: «D’s Egger-Anni» an der Spillstatt und «d’s Braawand-Elsi» im Duftli, Anna Egger und Elsa Brawand, hatten früher noch in Hutten, in Rückentragkörben, Waren von Interlaken her ins Tal getragen. «Inha g’fergged», wie man sagte. Hier wurden die Güter in einem Gaden neben der Wohnung aufbewahrt und mit einem bescheidenen Profit weiter verkauft: Etwa ein Haubenblätz oder ein seidenes Halsband. Kleider gab es in Grindelwald noch keine zu kaufen! Sie wurden von den Frauen selber angefertigt. Die Männer sorgten für Wolle und Linnen. «Da siin Schaaf, und da ist Land, und da ist Mist!», hiess es dazu. Vor hundert Jahren waren nun aber, mit dem Tourismus, stattliche Kaufläden an der Dorfstrasse entstanden. Jetzt schüttelte man den Kopf über die jungen Grindelwalder Frauen, die ihr selbstgewobenes Tuch zum Krämer im Duftli, im Dorfzentrum, oder sogar «Zur Stadt Paris» der Gebrüder Geismar in Interlaken trugen und nichts Gescheiteres zu tun wussten, als ihre währschaften Handarbeiten gegen modischen «Fabrikplunder» einzutauschen!
Geschniegelt und gestriegelt
Oft noch in Halblein, wie alle richtigen Männer mit Hut, und in gestärktem weissem Hemd mit schwarzem Knopf oder Mäschchen im Kragen: In dieser «Aalegi», in dieser Kleidung, traten die Bürschchen beim gestrengen Dorfpfarrer Gottfried Strasser zur Konfirmation an. Dazu trugen sie stolz eine Uhrkette vor dem «Schilee», wenigstens die Söhne wohlhabender Eltern unter ihnen. Die Schuhe waren stets mit hohem Schaft versehen und oft waren die billigeren noch ungepaart. Männer in Halbschuhen? «Unverständlich und weibisch», lautete das Urteil vor hundert Jahren. Ein angesehener Mann hatte das in aller Öffentlichkeit noch so vertreten – bis man ihn Jahre später, als die Leute vor ihm den Hut zogen, hie und da selber in Halbschuhen antraf. Er war Gemeinderat geworden! Die Mädchen trugen zur Konfirmation bis auf den Boden reichende dunkle Röcke und sahen aus wie bestandene Hausfrauen. Jedes Kleid war hoch geschlossen und keinem fehlte zum Abschluss eine Brosche. Um 1906 ist bei Frauen im Gastgewerbe ein breiter, runder Schulterkragen aus Stoff oder gehäkelt en vogue.
Ohne Hut geht es nicht
Vor hundert Jahren gab es in Grindelwald zwei gut gehende Hutgeschäfte. Der Hut spielte bei Frauen eine weit grössere Rolle als heute. Den Hut trug man zum Flanieren durchs Duftli, man trug ihn zum Schlittschuhlaufen und sogar beim Skifahren durfte er nicht fehlen. Auf der Dorfstrasse mit Hut «sehen und gesehen werden» machte sich besonders gut auf Skiern mit dem langen Alpenstock oder mindestens einem eleganten Grindelwaldschlitten mit einem schön bestickten Kissen als Polster. Zum Ärger der Hotelconcierges schnallten vor allem englische Gäste manchmal die Skis schon im Hotelzimmer an. Wie sie so samt Hut die Hoteltreppen herunterkamen, darüber schwieg des Sängers Höflichkeit. Riesige, mit Blumen garnierte Damenhüte waren grosse Mode. Am Bahnhof Grindelwald ergötzte man sich am Schauspiel, das vornehme Damen beim Einsteigen in die Züge der Wengernalpbahn boten: Einige mussten den Kopf schief halten, um mit ihrem «Wagenrad» überhaupt durch die schmale Türe zu kommen. Oft brauchten die Schönen dann handfeste Hilfe, die ihnen die sonst nicht als besonders fein bekannten Kondukteure der WAB nicht ungern gewährten.
Geldeswert
Der Strasse entlang wurden immer häufiger Gebäude mit Ziegelbedachungen gebaut. Das war seit dem verheerenden Dorfbrand, mehr als ein Dutzend Jahre zuvor, sehr erwünscht. Aber nicht alle konnten sich das leisten. So war an einer Scheune zu lesen:
Taussend achthundert achtzig und acht
Da habe ich diese Schiir gemacht
Hätt mir der Schwager das Geld vorgstreckt
So hätt ich sa mit Zieglen deckt
Die Leute von damals mussten mehr an Geld und Geldeswert denken als die heutigen. Die Preise waren allerdings unglaublich tief. Für einen Fünfer bekam man schon dieses oder jenes, so zum Beispiel ein Weggli. Ein halbes Dutzend Eier kostete bei zwanzig, ein Zweipfünderbrot etwa dreissig Rappen. Auf Ansichtskarten aus Grindelwald von 1909 sieht man, dass sie mit einer Fünfrappenmarke frankiert wurden. Wie stand es aber mit den Einnahmen? Ein Taglohn für einen Feldarbeiter zum Beispiel betrug nur um die acht Franken und ein angestellter Heuer musste froh sein, wenn er einen Fünfliber bekam. Ein Bergführer durfte 1909 gemäss Tarif für eine zweitägige Tour von Grindelwald auf das Faulhorn, mit Übernachten, achtzehn Franken verlangen.
Bettelei oder ein Weihnachtsbrauch?
«In Grindelwald gangi niemman wan der Weibel und der Fehnd», lautete ein zweifelhaftes Kompliment, so aufgeschrieben um 1905. In Grindelwald gehe nur der Konkursbeamte herum und der Föhn. Das ist übertrieben und damit wollte man wohl die Grindelwalder «fuxen» und necken. Allerdings ging tatsächlich in diesen guten Jahren hie und da ein Hotel in Konkurs, weil es zu gross gebaut oder der Betrieb schlecht geführt wurde. So geriet 1909 Hotelier Karl Schlee mit seinem Hotel Metropole in Konkurs. Metzger Johann Haussener kaufte es darauf und gab ihm den bodenständigen Namen «Hirschen». Heute ist es der Hirschen der Familie Patrick Bleuer. Im Vergleich zu andern Gemeinden im Oberland ging es den Grindelwaldern aber, dank des Tourismus, nicht schlecht, wie die Armenstatistik des Kantons zeigt. Es klopften jedoch um die Weihnachtszeit immer noch von auswärts Gruppen armer Mädchen und Buben an, sogar aus dem abgelegenen Saxettal – nicht für Schokolade, sondern für ein Almosen oder ein paar Kartoffeln. Einige Hoteliers störte das. Man müsse sich ja vor den Gästen schämen, ist im «Echo» zu lesen. Im Gemeindrat wurde darauf erwogen, ob es sich da um einen alten, ehrwürdigen Weihnachtsbrauch handle, der erduldet werden müsse, oder einfach um Bettelei, die zu verbieten sei. Man beschloss, die Sache vorderhand mit den betreffenden Gemeinden zu besprechen.
Merkwürdiger Steuereinzug
Von Seckelmeistern, so nannte man die Kassiere, wurde Merkwürdiges erzählt. So wird von einem berichtet, dass die Schulmeister ihre Gemeindebesoldung nicht erhielten, weil er entweder die Steuergelder nicht einzog, nicht erhielt oder sie vorläufig für sich selbst benutzte. War’s ihm zu Hause verleidet – und er hatte offenbar oft Grund zum «Verleider» – dann hängte er seine gelbhaarige Waidtasche um und ging auf Steuereinzug. Da und dort gab’s zur Zahlung oder vor allem bei einer Absage ein Gläschen oder zwei zum Trost. Gegen Abend landete der Einzüger in einer der Dorfwirtschaften, wo er seine Jagdtasche mit dem Tellrodel, dem Steuerverzeichnis, und eingegangenem Geld in der Gaststube an die Ofenstange hängte. Zu Hause spät nachts gab’s das nämliche Manöver. Was befand sich am Morgen noch in der Tasche? Sicher war nur, dass es keine Buchhaltung war. Man brauchte, bis nichts mehr vorhanden war und dann ging man erneut auf «Reisen». Wie auch immer, so wurde es vor hundert Jahren erzählt und aufgeschrieben.
Ohne Hund über den Gletscher
Es geschah vor hundert Jahren an einem Oktobertag. Die ganze Nacht hindurch hatte man beim Unteren Gletscher das Wehklagen eines Hundes gehört. Am folgenden Morgen vernahm man, im Hotel Adler logiere ein Gast aus Bern, der seinen Vierbeiner vermisse. Der Bäreggwirt meldete darauf, ein erbärmliches Hundegeheul sei bis morgens vier Uhr von der andern Seite des Gletschers zu hören gewesen. Es wurde dann auch bekannt, der Hundebesitzer, ein Herr Widmann aus Bern, sei am Vortag von der Kleinen Scheidegg her gekommen. Dort habe er einen Bergführer angestellt, der ihn dem Eiger entlang zur Bohneren geführt habe, einer Schafweide am Osthang des Eigers. Der Führer sei mit ihm dann über das Untere Eismeer, wie der Untere Gletscher einst hiess, zum Wirtshaus auf die Bäregg hinauf gestiegen. Das war ein nicht ganz einfacher Pfad von der Kleinen Scheidegg her über den Unteren Gletscher und so etwas wie ein anspruchsvoller «Eigertrail» vor gut hundert Jahren. Der damals hohe Stand des Gletschers ermöglichte eine Überquerung. Mit der Zeit vernahm man dann, was sich abgespielt hatte.
In die Lütschinenschlucht gestürzt?
Beim Besteigen des Gletschers war es zu Schwierigkeiten gekommen. Der Hund zeigte überhaupt keine Lust, das Eis zu betreten. Er liess sich auch partout nicht tragen und der Führer verlor mit dem Hundetheater zusehends die Geduld. Er wollte keine Zeit mehr verlieren, denn es war schon spät. Der sonst harmlose Untere Gletscher, über den sich Bergsteiger jeweils lustig gemacht hatten und ihn als «Gletscher der Damen und Stutzer» bezeichneten und über den Rinder, Ziegen und vor allem Schafe auf die Gletscheralp am Zäsenberg zogen, war nach einem heissen Sommer unerwartet gefährlich geworden. So musste man den nicht leichten Entschluss fassen, ohne Hund weiterzugehen. Entweder fand Argos allein den Weg ins Tal oder man konnte ihn am nächsten Tag in der Bohneren holen, vertröstete man sich. Nach der Gletscherüberquerung von der Bäregg zurück im Dorf verbrachte Widmann eine schlaflose Nacht im Hotel Adler. Der hilfsbereite Wirt Adolf Boss organisierte am folgenden Morgen unverzüglich eine Suchaktion. Dass man hie und da Alpinisten suchen musste, war für die Bergführer nichts Aussergewöhnliches, aber Kopf und Kragen für einen kleinen Vierbeiner zu riskieren, an solches konnte man sich nicht erinnern. Doch war man froh für ein Taggeld. In Grindelwald gab es zu viele Bergführer. Man zählte gegen hundert «Gletschermanna» mit einem Bergführerpatent und lange nicht alle waren genügend beschäftigt. Die Suchaktion unter dem Schwarzeiger, wie man den östlichen Eiger früher nannte, blieb erfolglos. Das Tier war spurlos verschwunden. Es war vermutlich «z’Tod troolet», in die Lütschinenschlucht hinunter zu Tode gestürzt, nahm man an. Das geschah an einem Freitag.
Ein Wunder von einem Hund
Widmann musste am Sonntag das Hotel Adler betrübt verlassen und ohne seinen lieben Hund nach Bern abreisen. Nun geschah am folgenden Mittwoch Unglaubliches: Es kratzte und winselte plötzlich an der Türe seiner Wohnung in der Länggasse. Argos war da, erschöpft und am Ende seiner Kräfte! Widmann schrieb später:«Seither weiss man, zum Teil durch direkte Mitteilungen von Gasthofbesitzern im Oberland, dass das Hündchen, ohne sich irgendwo greifen zu lassen, vom Eismeer bei Grindelwald den Weg längs der Eigerwand nach der Kleinen Scheidegg zurückgelaufen ist, dann hinab an den Thunersee, weiter längs dem See die vielen Stunden bis Thun und von dort noch gut fünf Stunden nach Bern.» Dabei hatte der kleine Vierbeiner bei der Herfahrt von Bern ins Oberland den grössten Teil der Reise im Zug oder unter Sitzbänken des Schiffes verbracht, von der Landschaft hatte er kaum etwas zu sehen bekommen! Der Hund machte von sich reden. Das war ein Wunder. Hundebesitzer Josef Viktor Widmann war ein bekannter Redaktor der Zeitung «Der Bund» und ein angesehener Schriftsteller. Damit war dafür gesorgt, dass das Ereignis weit und breit bekannt wurde, sogar über die Landesgrenzen hinaus. Der Vorfall wurde viel besprochen und fand als Tiergeschichte Eingang in Schweizer Schulbüchern. Alle bewunderten den unglaublichen Orientierungssinn, aber auch die Ausdauer und Treue des kleinen Vierbeiners. Argus wurde mit dem Ereignis am Untern Gletscher zu einem weit herum berühmten Hund.
Grosses stand bevor
Gegen Ende des Jahres 1909 schliefen nicht mehr alle Talbewohner gut. Man hatte sich Grosses aufgeladen, allen voran der Skiclub Grindelwald. Zuerst machte seit August 1909 ein auffallendes Plakat auf den bevorstehenden Anlass aufmerksam, mit einem eleganten Telemarkfahrer in leuchtend rotem Pullover. Dazu kam eine Fest-Postkarte mit zwei uniformierten Skifahrern und dem freundlichen Wetterhorn im Hintergrund. Die Karte hatte der begabte Zeichner Gottfried Strasser junior gestaltet, Sohn des Dorfpfarrers Gottfried Strasser. Das sechste Grosse Skirennen der Schweiz stand vor der Tür! Erstmals in Grindelwald. Vom 21. bis 23. Januar fand es statt, bei schönem Wetter. Es wurde ein Riesenfest! Nebst den Wettkämpfen, bei denen es wegen den Stürzen oft viel zu lachen gab, organisierte man auch Umzüge. So zog am Samstagabend eine Karawane auf Ski und mit Lampions durch das Dorf, eine märchenhafte nächtliche Winterparade. An einem Festumzug am Sonntagnachmittag wurde der Alltag und die Sagenwelt Grindelwalds dargestellt. Ein fröhlicher Schwarm Unterschüler als winterliche Zwerge verkleidet entzückte die Zuschauer besonders.
Abfahrt in fortgesetztem Purzelbaum
Bei den Wettkämpfen «am Schweizerischen» wurde eines der ersten Damenrennen durchgeführt und damit Sportgeschichte geschrieben. Dieser Damenwettkampf fand gegenüber dem Dorf an der Trychelegg statt, oberhalb der dortigen Eigerschanze der Skispringer, an einem stotzigen Hang zum Engelweidli hinunter. Die einen seien in stolzer Haltung den steilen Abhang herunter gefahren, andere jedoch «von oben bis unten in fortgesetztem Purzelbaum», schrieb die «Zeitschrift für Sport» 1910. Trotzdem heisst es aber, dort sei erstmals bewiesen worden, «dass auch die längsten Hölzer von der weiblichen Grazie siegreich gemeistert werden können.» Solch einheimische Grazien tauchten zuvorderst in der Rangliste auf, so Anni Brunner, Rosa Boss und Emma Jossi. Es sei das bis jetzt am schönsten und besten gelungene schweizerische Skirennen gewesen, steht im Jahrbuch 1910 des Schweizerischen Skiverbandes SSV. Dabei fuhr damals noch keine einzige Bergbahn und jeder Start musste zu Fuss erreicht werden.
Quellen
«Echo von Grindelwald», Jahrgang 1909, 1910, Sammlung Thomas Stettler
«Grindelwald», Emanuel Friedli, 1908
«Herbsttage in den Berner Alpen», Josef Viktor Widmann, Schweizer Lesebuch 1942
«Im Tal von Grindelwald», Band III, Rudolf Rubi, 1987
«Ein alter Berner erzählt», Peter Sommer, 1983
Interview mit Peter Kaufmann, geb. 1888, Tonbandaufzeichnung 1973, Sammlung Peter Bernet
Mündliche Überlieferungen
Fotos:
Fotosammlung Jakob Bracher, Hermann Jaggi
Elegant gekleidete Damen und Herren oberhalb der Stieregg, hoch über dem Unteren Grindelwaldgletscher. Die gefährlichen Holzleitern wurden 1909 abgerissen und Gletscherwirt Peter Inäbnit liess einen Weg direkt zur Stieregg heraussprengen. Der Weg ist heute nicht mehr begehbar.
Sehen und gesehen werden in Grindelwald vor hundert Jahren. Sportlich auf Ski, elegant mit Pelz und vor allem immer mit Hut. Noble Damen flanieren auf der Dorfstrasse – vor dem heutigen Sportgeschäft Kaufmann.
Pfarrerssohn Gottfried Strasser hat die Festkarte für das «Schweizerische» entworfen. Strapaziöse Militärläufe waren ein wichtiger Teil der Schweizerischen Skirennen und die Grindelwalder Patrouille von Lt. Hans Bernet, an Stotzhalten, gehörte jahrelang zu den besten. Die Wettkampfstrecke von 1910: Grindelwald–Grosse Scheidegg–Schwarzwaldalp retour.
Die schön gemachten Grindelwaldschlitten, mit den typischen Rundstäben, ursprünglich genannt «Beinz» oder «Beindler», später kam «Gemmel» auf. Sie erhielten durch die einfacheren «Davoser» Konkurrenz. 1905 gezeichnet vom Mühlebacher Hans Bleuer.
In der Brasserie Belle-Vue wartet der legendäre Faulhornwirt Pintenfritz Bohren auf Kunden. Daneben das Hotel Grand Eiger, ein riesiger Hotelkasten. Im Schlechtwetterjuni 1909 kamen dort auf angeblich zweihundert Angestellte neun Gäste!
Skivergnügen oberhalb des Dorfes. Frauen tragen immer Röcke, Hosen gelten als anstössig. Noch fährt, paddelt und fuchtelt man mit dem langen Alpenstock. Der Doppelstock mit dem Schneeteller kommt aber in den folgenden Jahren auf.
Ohne grossen Hut geht’s für Damen nicht: je grösser, je besser und als «Wagenräder» verspottet. Die Angestellte trägt den typischen Schulterkragen jener Zeit. Man sitzt in der Orangerie des Grand Eiger – heute steht dort der Grindelwalderhof der Kirchhofer AG.
In Hutten wurden einst Waren zum Verkauf nach Grindelwald getragen. Vor hundert Jahren konnten sich alte Leute noch daran erinnern. Hier die vermutlich letzte Huttenhändlerin, angeblich eine Frau Inäbnit, genannt «d’s Habchi», weil sie aus Habkern stammte, wohnhaft gewesen auf der Herrschaft, gezeichnet 1907.
Konfirmanden, geschniegelt und gestriegelt, sie tragen wie alle richtigen Männer immer einen Hut und Schuhe mit hohem Schaft. Männer in Halbschuhen galten als lächerlich.
Tailing Party vor dem Bear Grand Hotel, im Schlepp einer Kutsche. Gleich geht’s los! Man konnte ja nicht den ganzen Tag auf der Eisbahn verweilen und Skifahren war nur für ein paar Unentwegte, dachte man. Man konnte es geniessen, denn Autos gab es im Winter noch weit und breit keine.
Elegant im Damensattel auf einem «Muulti» sitzend, einem Maulesel, geht’s zur Bäregg hinauf. Endstation war das dortige Gasthaus, heute noch eine Ruine. Die Führer waren gut angezogen, in weissem Hemd mit Krawatte, wie es sich damals gehörte, oft sogar auf Bergtouren.
Jedem Hotel seine Eisbahn, hier bei der Pension Villa Sans Souci, dem damals zweitteuersten Hotel Grindelwalds, bei der heutigen Katholischen Kirche.
Die Gemse ist das alte Wappentier Grindelwalds. Sohn Gottfried Strasser entwarf das Emblem 1909 für das «Grosse Schweizerische Skirennen» im Januar 1910. Vater Strasser, der Gletscherpfarrer, nie verlegen um einen Spruch, lieferte dazu die Legende.
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